Klappentext

Sein Name ist Viktor. Nicht Bond. Mit Kriminalistik hat er eigentlich nichts am Hut. Er ist Entwicklungshelfer.

Nach seiner Mission in Mandalgov in der Mongolei wagt es Viktor, mit dem Transmongolei-Express auch nach Irkutsk zu fahren. Die Stadt am Baikalsee möchte er als Tourist kennen lernen. Das gönnt er sich. Dabei gerät er zwischen die Lager geldgieriger Oligarchen Russlands und der Chinesischen Staatsmacht. Der Zug ist berüchtigt für so manchen Mord auf  nächtlichen Reisen. 

Die Gier Chinas nach seltenen Erden lassen ihn in die Abgründe menschlicher Naturen blicken.

Auf seinem Weg durch die Naturschönheiten Burjatiens steht ihm seine russische Dolmetscherin Maria zur Seite. Beide werden  mit mysteriösen Morden konfrontiert, die sie bis in die Leichenkeller der russischen Justiz führen.

Professor Urbanov ist ein Meister im Sezieren, und Kriminaloberkommissar Timoschenko hat schon so manchen Fall gelöst …

Authentische Erlebnisse und Fiktion fügen sich zu einem spannenden Leseerlebnis.

 

Leseprobe Kapitel Die Hatz


War es Selbstmord, ein Suizid, welcher die Frau ins Wasser trieb? Es fand sich nichts bei ihr; kein Abschiedsbrief, kein Ausweis, kein Handy. Nur Spermaspuren, doch die dürften auch von einem zurückliegenden Abenteuer stammen. Wie ist sie hierher gekommen? Ein Fahrrad lag nirgendwo am Ufer, auch nicht in Ufernähe im Fluss. Außerdem ist tiefer Winter. Da fährt man nicht mit einem derartigen Fahrzeug.
Als sie vor zwei Tagen gefunden wurde, etwa einen Flusskilometer abwärts in Richtung der Angara, in die der Reka Kitoy nach etwa 15 Kilometern und einigen Verzweigungen mündet, war das Wasser noch weitgehend eisfrei. Jetzt, als die intensive Spurensuche anhebt, bedeckt schon eine stärkere Eisschicht das Gewässer. Da ist es gefährlich, einen Taucher unter die Eisdecke hinabgleiten zu lassen. Es bleibt also nur die Möglichkeit, in der Umgebung herumzufragen, ob jemand als vermisst gilt.
Ein Aufruf in der Lokalzeitung bringt keinerlei Erfolg. In den nahen Dörfern und dem kleinen Ort Kitoy, der nicht weit entfernt ist und einen Haltepunkt für die Bahn  besitzt, ist niemand als abgängig gemeldet. Da scheint es also doch eher Mord als ein Unfall, auch keine Selbsttötung zu sein. Die unbekannte Tote wird also mit einem Auto (kaum einem Pferdeschlitten) an den Fluss gebracht worden sein. Auf der Ulitsa Yaroslava Gasheka, die vom Bahnhof neben der Strecke am Wasserlauf entlangführt. Aber das ist nur eine Vermutung der Mordkommission, keineswegs gesicherte Erkenntnis. Doch was hat der Haltepunkt für einen Zusammenhang damit? Solange es keine handfesten Fakten gibt, reimt sich auch ein Kripobeamter einiges zusammen. Da handelt er ebenso abstrakt wie übereifrige Zeitungsreporter.
Also ein Sexualvergehen? Wenn ja, und dafür spricht ebenfalls manches, kommt ein Schlitten wohl nicht in Frage. Wer benutzt hier noch Pferde vor Schneekufen! Wo lebt der Russe denn! Aber Sex in Eiseskälte? Das können dann nur ganz Perverse sein!
Ein Mord direkt im Zug wird wohl gleichfalls auszuschließen sein. Doch auf welche Weise wäre die Leiche dann in den Fluss gelangt? Es gab zwar Schleifspuren im Schnee, doch die führten nur bis zu den Büschen unterhalb des Bahndammes und verlieren sich da.
Nicht völlig ausgeschlossen scheint es da immer noch zu sein, dass drei Personen den Zug fluchtartig verließen, als der seinen erzwungenen Halt vor der Brücke einlegte. Obwohl meist von zwei Subjekten ausgegangen wird. Und die Leiche hatte außer einigen hässlichen Hautabschürfungen keine weitere Verwundung. Sie ist jedenfalls nicht erschossen worden. War es also doch der vom Professor vermutete Unfall im Liebestaumel, der zum Tod führte? Da war der Fluss das passende Medium, die Leiche wegzuspülen. Die ganzen Puzzles ergeben trotzdem weiterhin keinen schlüssigen Zusammenhang.
Was sagte denn Gerichtsmediziner Urbanov, als er die Frau unter dem Messer hatte? »Die Gute wird durch einen Schock verstorben sein. Aber wo? Im Zug oder einem Auto?«
Die Identität der Toten ist also fernerhin unbekannt. Nur, dass sie als Wasserleiche endete, ist ersichtlich. Ist sie ertrunken, oder war sie vorher schon tot? Professor Urbanov war sich nicht ganz sicher, ob die Wasseransammlung in der Lunge auch ödematös verursacht sein könnte.
Ein drittes Ticket war nicht gelöst worden. War sie Schwarzfahrerin? Spielte unter Umständen eine der Zugbegleiterinnen mit und hatte sie unbemerkt einsteigen lassen? Sonst wäre es doch nicht möglich, dass eine Person heimlich, still und leise in einen Waggon hineinkommt. Da haben auch sämtliche Schaffnerinnen dieses Zuges ihre Aussage zu Protokoll zu geben.
Nach den Fahrkarten zu urteilen, die bei den Zugbegleiterinnen hinterlegt waren, sind eine Frau nach Ulan Ude und eine zweite Person über die Mongolei nach China unterwegs gewesen. Deshalb müssten beide in Irkutsk umsteigen. Die Reisende nach Ulan Ude mit Namen Smirnow ist mit russischer Staatsbürgerschaft, der Mann mit Zweistaatenpässen, Mongolisch/chinesisch, auf Reisen. Sein Name war mit Zhū lǎoshī angegeben.
Ein gewaltiger Arbeitsaufwand, der auf die Kriminalisten zukommt. Doch das Rätsel darf nicht ungelöst bleiben.
Professor Urbanov grübelt weiter an seiner Theorie, dass die Flussleiche nicht einem vorsätzlichen Tötungsdelikt zum Opfer gefallen sei. Ohne jeden Zweifel aber nicht mehr unter Lebenden weilt. Und vielleicht ein recht aktives Sexleben hatte. Eine Prostituierte möglicherweise?
Sie wird weiterhin in ihrer eisigen Dunkelkammer auszuharren haben. Dieser Fall wird zunächst buchstäblich auf Eis gelegt. Neue Erkenntnisse werden dringendst gesucht.
Ein Faktor wäre aber doch inhaltsschwer. Jedenfalls dann, wenn genetisches Material zur Verfügung stände: die obligatorisch von Gerichtsmedizinern entnommene Nagelprobe des Opfers bei Tötungsverdacht. Daraus ergeben sich die Erkenntnisse: Einmal, ob sich das Todesopfer gewehrt hat. Dann könnten winzige Rückstände vom Körper des Verbrechers zu seiner Identifizierung führen. Wenn, und nur dann zum Zweiten, der denn schon durch andere Delikte aktenkundig wurde und DNA-Partikel hinterlegt sind.
Ab sofort werden daher beide Mordkommissionen doch gebündelt. So erhofft man sich eine wirkungsvollere Arbeit. Doch Timoschenko und Abrassinov in einer Fahndungsgruppe? Wenn das man nicht zu einem Fiasko führt. Zwei Köche verderben oft den Brei.
Aber was bleibt den Fahndern anderes übrig? Die Verschwundenen sind schnellstmöglich aufzuspüren; nicht, dass weitere Straftaten verübt werden, die einen Bezug zu diesen Leuten herstellen können.
Wie stände denn dann die reputierte mongolische Eisenbahngesellschaft da. Ist nicht in der Lage, ihre Reisenden sicher ans Ziel zu bringen! Das Dilemma würde sich ja bis nach Europa herumsprechen! Erwartungsvolle Touristen kämen nicht mehr. Ein wirtschaftlicher Schaden ohnegleichen!
Ein wenig Sarkasmus, selbst in dieser brisanten Situation, ist auch nicht fehl am Platz!

Wo ist der Hebel also sinnvoll anzusetzen, überlegt Kommissar Timoschenko. Das ist es, was ihm den Schlaf raubt. Wo steckt die Nadel im Heuhaufen? Oder: Wo findet sich der Anfang des Fadens im Knäuel? Der Gordische Knoten ist zu zerschlagen!!
»Wenn man denn von Kidnappern zu sprechen hat, besaßen die einen exakt ausgeklügelten Plan,« grübelt er. »Kurz vor der Überquerung des Reka-Kitoy wurde der Zug zur Zwangsbremsung gezwungen. Da hatte er noch keine hohe Geschwindigkeit, weil er kurz zuvor in Biliktuy einen Halt hatte. Es war noch dunkle Nacht. Wegen der Brücke fuhr der Zug auf einer erhöhten Bahntrasse. Unten am Damm steht ein Auto, welches die Entsprungenen übernahm. Sofern die Wasserleiche nicht zu dem Trio gehörte, waren es zwei, nicht drei, die vom Zug außerhalb eines Bahnhofs absprangen. Das Aussehen der Mitreisenden ist dank Gospodin Viktor bekannt. Doch keineswegs gesichertes Faktum, ob die denn überhaupt die zweite Person war. Vielleicht war es jemand ganz anderes. Nicht von der Hand zu weisen, dass die Anwältin längst wieder in ihrer Heimatstadt ist.«
»Was wäre, wenn eine der Bahnbediensteten eine Vertraute der Ganoven wäre,« überlegt er weiter. »Zwei Tickets sind vorhanden, könnten aber auch gefälscht sein. Eine Beschreibung der Gesuchten ist obsolet, weil niemand besonders auf sie geachtet hatte. Die Fluchtroute auf der Straße, die unter der Eisenbahnbrücke verläuft, könnte in Richtung Molochno-Tovarnaya oder hin zur Schnellstraße P 255 genommen worden sein, In beiden Gebieten liegen umfangreiche Wälder, aber ebenso kleine Ortschaften. Auch eine Laubenkolonie in der Nähe der Bahntrasse ist bekannt.
Es wäre möglich, da Leute zu verstecken oder physisch verschwinden zu lassen. Aber das größte Rätsel vorerst ist – weshalb das alles. Man weiß ja nicht einmal in Ansätzen, ob die Verschwundenen aus freiem Willen den Zug gestoppt haben.«
Im fortgeschrittenen Alter noch mit solchen Komplikationen überfallen zu werden! Timoschenko hätte es sich vor seiner Pensionierung etwas geruhsamer gewünscht!
»Abrassinov, sag du auch mal deine Meinung! Immer bleibt alles an mir hängen.«
Der verkneift es sich, darauf hinzuweisen, dass Timoschenko der Oberkommissar ist. Das könnte ihm sehr übel genommen werden.
»Wir haben uns auf unseren phänomenalen Scharfsinn zu verlassen oder den Zufall einer Entdeckung. Die Spuren im Schnee sind weg, zugeschneit. Ich tendiere weiter zur P 255. Die Straße dorthin ist die Sovetskaya Ulitsa. Da kommt man schnell voran.«
»Aber doch nicht zu Fuß!« Timoschenko läuft rot an. Ist es vom angestrengten Nachdenken oder vielem Wodka? Wahrscheinlich trifft beides zusammen.
»Nicht weit entfernt von der Bahnstrecke liegen verstreut Datschen vermögender Industrieller und anderer einflussreicher Leute. Auch da könnten sie untergetaucht sein. Dann fiele der weite Weg zur P 255 weg. Das wäre ebenso in Erwägung zu ziehen.
Wir sollten zunächst das Gelände der nahen Wochenendhütten umstellen und alle einzeln durchsuchen. Wird es da keinen Erfolg geben, kommen die Datschen der Reichen dran. «
»Und während wir stöbern, entwischen sie uns auf Nimmerwiedersehen!« Timoschenko schiebt sich mit fahrigen Händen eine weitere Zigarette zwischen die Lippen.
»Wenn sie sich nicht in Hütten verkrochen haben, sind sie sowieso verschwunden. Da hülfe dann wirklich nur der Zufall. Aber das Motiv! Was ist das Motiv für die Entführung? Wenn wir das kennen, könnten wir die Spuren leichter ermitteln!« Abrassinov hat eine scharfe Auffassungsgabe, aber keine zutreffende Idee.
»Ich tendiere deshalb, zur P 255 zu fahren und ab da mit der Suche anzufangen!«
»Ich nicht. Mir sagt mein siebter Sinn, dass die hier in den Wohnhütten stecken.«
Da waren sie, die gegensätzlichen Auffassungen, die einen Fahndungserfolg schwer vorstellbar werden lassen. Zwei Köche ....
Wer von den beiden Spezialisten wird recht behalten? Die Überlegungen springen im Dienstzimmer hin-und her, während die Gesuchten sich weiterhin ihrer Freiheit erfreuen. Wirklich? Ist eine der Personen aus dem Zug womöglich in Lebensgefahr und benötigt Hilfe?
Es wird eine Durchsuchung der Laubenkolonie angeordnet. Vierzig Hütten sind es etwa, die systematisch zu durchkämmen sind. Das wird dauern, aber den Ring durchbrechen wird niemandem gelingen. Polizisten mit kläffenden Deutschen Schäferhunden an der Leine bilden eine undurchdringliche Absperrung um die Kolonie. Manche der Häuschen sind zwar aus Stein errichtet, aber primitiv. Haben nicht mal einen Verputz und dienen trotzdem als ständige Bleibe von armen Russen, die so wenigstens ein Dach über dem Kopf haben. Geheizt werden die oft aus nur einem einzigen Raum bestehenden Behausungen durch einen Bollerofen. Das Heizmaterial ist verrottetes Holz oder aus dem nahen Wald geklaute Stämme. Feucht noch, verbreiten die Kloben beißenden Qualm, welcher die ganze Kolonie einhüllt. Gasheizungen sind hier unbekannt.
Einige Unterkünfte sind nur an Sommertagen oder jetzt, wo die herrliche Schneelandschaft zum Freizeitvergnügen mit Wodka und Borschtsch essen einlädt, bewohnt. Da wird dann mit Budenzauber die Nacht zum Tag gemacht. Mehrere Quartiere findet die Polizei verrammelt und verriegelt. Darin könnten sich Flüchtige aufhalten. Die sind dann gewaltsam geöffnet worden.
Und tatsächlich verbergen sich dort einige Verängstigte, Männer wie Frauen, ohne Ausweise, mit verhärmten Gesichtern. Aber sind darunter die Gesuchten? Die Polizisten sammeln alle ein.
Mit aufheulenden Motoren verbringen Käfigwagen die vor Angst und Kälte zitternden in ihre neue Unterkunft, das Polizeigefängnis. Wie lange sie in Gewahrsam bleiben werden, hängt auch von Viktor ab. Würde er unter den Aufgegriffenen seine Abteilgenossin, die Frau, die ihm zum Abschied nicht mal die Hand reichen wollte, erkennen, hat sich der Aufwand gelohnt und sie wäre gerettet. Oder inhaftiert. Aber ihr Begleiter? Über den gibt es weiterhin keine andere Beschreibung als die von einer Schaffnerin. Die hat von einen jüngeren Mongolen berichtet, aber nur sehr dürftig. Damit ist einem Kriminalisten nicht zu helfen. Weitere Details fielen der Zugbegleiterin nicht ein. Der Mann wird sich abgesetzt haben.
Wenn die Gesuchten bei den Ertappten nicht dabei sind, hätte man wenigstens einige Landstreicher in Gewahrsam genommen. Das ist für gewöhnliche Polizisten auch als Erfolg zu werten. Nicht jedoch für Timoschenko. Der will mehr.
Für die nächsten Tage haben die Aufgegriffenen Essen und Trinken frei. Und sie haben es wärmer als in den vereisten Datschen. Und falls es untergetauchte Preller sind, genießen sie schon mal einen Vorgeschmack auf das Lagerleben in den Arbeitskolonnen. Eine richterliche Einweisung ist gewöhnlich nur einfache Formsache.

Professor Urbanov hat seine Freude an Obduktionen. Ob eine Vergiftung zum Tode führte, analysiert er am Magen – und Darminhalt. Das ist sein Leben. Eine Lunge aufzuschneiden gibt Aufschluss, ob das Opfer stark rauchte oder ertränkt wurde. Hat es Hämorrhoiden, deutet das auf Muskelinsuffizienz hin. Gerichtsmediziner wird man wohl nur, wenn eine Neigung zu Sadismus besteht oder der Vater Fleischer gewesen war!
Viktor kam sich wie gefesselt vor, als man ihm die sofortige Rückfahrt nach Ulan Bataar verweigerte. Er sorgt sich, wie Enghjin das auffassen wird. Er ist doch fest mit ihr verabredet. Sie würde um 6:20 auf dem Bahnsteig in der mongolischen Hauptstadt stehen. Viktor ist nicht in der Lage, ihr eine Nachricht zu geben von der verhinderten Rückkehr. Er versäumte, sich ihre Handynummer zu notieren.
Aber trotz allem Frust: Jetzt findet sich Muße, weitere Highlights in Irkutsk von Maria erklärt zu bekommen. Er hat sich nur der Kripo zur Verfügung zu halten. Unter den Leuten aus den Lauben fanden sich die Fahrgäste nach erster Überprüfung offenbar nicht. Doch da ist Viktor noch heranzuziehen, denn er kennt ja die gesuchte Frau vom Ansehen.
Eine Münze besitzt immer zwei Seiten! Ein Schock wird nicht das Ende aller Überlegungen sein. Die Rückseite der Medaille birgt auch noch Überraschungen. Wo sind die Entschwundenen abgeblieben? Die Suche läuft auf Hochtouren.
Maria steht zur Verfügung. Sie hat sich weitere Tage von ihrem Hoteljob freigenommen, nur, um dem Deutschen ihre Heimatstadt und die Region vor Augen zu führen. Viktor ist beeindruckt von ihrer Hilfsbereitschaft.
»Ich würde dich glatt heiraten, wenn nur nicht dieser Altersunterschied zwischen uns beiden wäre!« Maria lacht. Sie fühlt sich geschmeichelt.
»Die Angara haben wir ja nun besucht. Jetzt steht auf unserer Besichtigungsliste das Heimatmuseum, das du ja auch interessant fändest«, meint sie. »Oder die Kasaner Kirche bei Nacht. Die bietet einen imposanten Anblick, wenn sie angestrahlt wird. Und das Innere ist abends auch zu besichtigen. Da wird nichts abgeschlossen. Du hast nur bei der Polizei anzugeben, wo du gerade bist. Nicht, weil man dich als Ausländer überwacht, sondern wegen der Zeugenbereitschaft. Die Leute könnten ja jederzeit tot oder lebendig aufgespürt werden. Man würde mir auf meinem Handy Bescheid geben. Was ist: Kasan?«
»Ok, Kasan nach Sonnenuntergang. Und Heimatmuseum jetzt gleich, bei Tage.«
»Otlichno, Prima. Das ist ein bei Touristen sehr beliebtes Museum. Da werden wir Wandteppiche, traditionelle Einrichtungsgegenstände und alte Gewänder zu sehen bekommen. Eine Sammlung mit Gegenständen und Funden, die teilweise 25.000 Jahre alt sind. Erkenntnisse über Russen in Sibirien seit dem 15. Jahrhundert und die neuere Geschichte wird dargestellt, ebenso der Bau der Transsibirischen Eisenbahn. Ich bin sicher, dass es dir gefallen wird. Aber ich glaube, es dir schon gesagt zu haben.«
»Macht nichts. Höre gerne deine Stimme!«
»Du Schmeichler.«
Es ist so, wie Maria es beschrieben hatte. Zwar recht anstrengend, denn die Besichtigung zieht sich über viele Räume und zwei Etagen hin, aber äußerst informativ. In fast jedem der Säle sitzt eine Wärterin, die mit Argusaugen wacht, dass niemand der Besucher eine Absperrung überschreitet oder wertvolle Gegenstände berührt. Fotografieren ist auch verboten. Unbezahlbare Exponate sind zusätzlich durch Panzerglasschränke gesichert!
Sehr interessant, was da an sehenswerten Ausstellungsstücken zusammengetragen wurde. Viktor ist ein großer Eisenbahnfan. Alles, was mit dieser Technologie zusammenhängt, erregt sein Interesse: Tunnel-und Streckenbauten, Dampf-und Elektroloks, Signaltechnik und unterschiedliche Spurweiten. Irre, wie viele verschiedenartige Loktypen Ingenieure im Laufe der Zeit entwickelt haben. Besonders beeindruckte Viktor der Bau der Eisenbahntrasse um den Baikalsee herum. Die Tunnel, Brücken und Viadukte, die geschaffen wurden und jetzt von einer Museumsbahn genutzt werden. Dazu manche Interna über die vielen Arbeiter, die ihr Leben ließen bei den schwierigen Bedingungen, unter denen der Schienenweg erstellt worden war. Teils wegen falscher Berechnungen, teils aufgrund von Erdbeben, die in der Region oft vorkommen, stürzten Brücken und Tunnel ein. Die tektonische Plattenverschiebung der Erdkruste ist daran beteiligt. Maria ist über Stunden seine unverdrossene Begleiterin.
Doch irgendwann macht sich Hunger bemerkbar. Das Museumsrestaurant wirbt mit einem Straßenstopper um Gäste. Es ist gut besucht, doch zwei Plätze lassen sich noch finden. Die Karte ist umfangreich; da hat Maria mal wieder zu helfen.
»Was ist denn zu empfehlen? Aber ich könnte auch mit geschlossenen Augen auf die Speisenkarte tippen und das Menü dann bestellen, das ich getroffen habe. Ist so eine Marotte von mir, wenn ich mich nicht auskenne. Manchmal kam da allerdings was bei raus, was dann nicht so nach meinem Geschmack war.«
»Och, kannst aber auch leicht an Spezialitäten vorbeitippen und was Stinknormales erwischen.
Wie wär´s denn mal mit russischen Pfannkuchen, den Blintschiki. Oder hier, ein Fischgericht, Kabeljau mit Karotten und Zwiebeln. Dazu kleine Kartoffeln in Buttersoße. Das ist kalt als Vorspeise oder als Hauptgericht zu bekommen.«
»Was ist denn deine Geschmacksrichtung?«
»Ich liebe Fisch. Davon gibt es in Russland jede Menge Arten. Ucha zum Beispiel. Das ist eine Fischbrühe aus verschiedenen Fischsorten. Als Vorsuppe. Oder da, die schwarze Ucha. Die besteht aus Karpfen und Karausche. Da könnt ich mich reinsetzen.«
»Würde ich gerne erleben, dich in der Suppe. Aber ohne Flachs: Durch mich bist du schon in eine eklige Brühe hineingerutscht. Ok, bestellen wir das doch. Und als Hauptgericht?«
»Zander unter Erdäpfelkruste mit Sauerkraut, steht hier. Liest sich gut, wird auch anständig schmecken.«
»Und was zu trinken dazu?«
»Viktor, du bist zu spendabel. Das darf ich nicht annehmen!«
»Doch, das gönnen wir uns. Die Gelegenheit in Russland ergibt sich für mich nicht wieder. Also, was für ein Getränk?«
»Dann ich bitte Wasser. Der Fisch will schwimmen!«
Als es Abend ist und Strahler die Kasaner Kirche in ein fast unwirklich zu nennendes Licht tauchen, ist es ein wirklich imposanter Anblick. Die orange Außenfassade der Kathedrale mit den blau-weiß abgesetzten Türmen und Simsen im Scheinwerferlicht wirkt einfach überwältigend. Na ja, die Gläubigen spenden ja auch regelmäßig bei ihren Kirchenbesuchen. Davon lässt sich die Illumination dann wohl bezahlen. Oder vom Gotteslohn.
Die Kathedrale erstrahlt nicht nur äußerlich. Durch die hochaufragenden Pfeiler im Innern macht sie auf seine Besucher einen erhabenen Eindruck. Das Deckengewölbe ist mit Engeln und Götterfiguren ausgestaltet. Die sind so facettenreich, dass Künstler damit bestimmt viele Jahre beschäftigt waren. Ikonen und Heiligenschreine an den Wänden geben Zeugnis vom Reichtum der Kirche. Spotstrahler lassen sie gülden aufflammen.
Vor einem Weihrauch schwenkenden Popen bekreuzigen sich Gläubige. Frauen haben ihre Haare und Schultern bedeckt, Männer zeigen sich dagegen barhäuptig. Hände in Manteltaschen vergraben wird ungern gesehen. Reinmachefrauen wuseln herum und sind bemüht, Bodenfliesen glänzen zu lassen. Es ist spät am Abend.
Der orthodoxe christliche Glaube fordert erhebliche Anpassungsbereitschaft von Viktor. Doch solange eine Überzeugung nicht in Extremismus übergeht, versteht er sich damit abzufinden. 'Jeder mag nach seiner Fasson selig werden', sagte schon der Alte Fritz.(*FN* Der Alte Fritz. König von Preußen. 1740 *FN*)
Auf der Meile Quartier 130 klingt der erste der uneingeplanten zusätzlichen Tage aus. Den Platz davor schmückt ein überdimensionales Herz aus künstlichen Blumen. In einem Lokal werden russische Melodien wie Kalinka, Walenki und Jemschtschik gespielt und getanzt. Viktor liebt die Atmosphäre.
Klingt natürlich makaber, zu sagen, dass er seine Freude findet, wenn andere sterben. Hatte die Wasserleiche nicht vielleicht doch genug vom Leben und war freiwillig daraus geschieden? Die Sache wartet der Aufklärung, und deshalb ist Viktor auch noch hier.
Am frühen Morgen bekommt Maria eine Mitteilung auf ihr Handy, dass die Laubenkolonie durchsucht worden sei. Mehrere Hundertschaften Polizei hätten den Komplex in der Nacht umstellt und ein paar Verdächtige festgenommen. Ob die Gesuchten sich darunter befinden, wisse man nicht. Gospodin Viktor wird dazu benötigt. »Wir halten Sie auf dem Laufenden. Der Deutsche ist weiterhin ein wichtiger Zeuge und hat zur Verfügung zu bleiben.«
Das hört sich ja an, als ob Viktor an die Kandare gelegt ist. Aber wenigstens hat er Maria, die sich sorgt.


 Kapitel Olchon: