Klappentext
In Afghanistan toben seit Jahrzehnten Stammesfehden. Der Bürgerkrieg spaltet das Land zwischen Sunniten und Schiiten. Najib will mit seiner Familie dem Gemetzel durch die Flucht in den Westen entkommen. Über Kabul, Kandahar und Herat erreichen sie, immer in der Angst vor Entdeckung, den Iran. Dort und in der Türkei erleben sie ebenso Hinrichtungen und Terror, dem sie doch in Afghanistan entgehen wollten. Über Griechenland, Mazedonien, Montenegro, Bosnien und Kroatien flüchten sie bis nach Slowenien. Auf ihren Etappen durch unbekannte Länder erlebt Najib mit seiner Frau Parwin und dem 3-jährigen Sohn aber immer wieder nette Menschen, die ihnen weiterhelfen. Aber es wird eine Ankunft ohne Zukunft.
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Durch den Iran.
Durch die Vermeidung der besonders gefährlichen und umkämpften Talibangebiete im Norden waren es runde 1.500 Kilometer, die wir bis jetzt zurückgelegt haben. Mal war es ein überladener Toyota, dann fantasievoll bemalte Busse, mit denen wir unterwegs waren. Alle überfrachtet. Auch auf Lastwagen suchten wir das Weite.
Selbst Laster sind verschönt. Ein Hinweis auf die Verbundenheit der Besitzer zu ihren Fahrzeugen.
Auf Angaben zu Fahrtzeiten ist kein Verlass, Planung ist kaum möglich. Denn wenn Ziegenherden oder Militärverkehr die Straßen blockieren, dauert es länger als gedacht. Auch wir waren davon betroffen.
Von Kundus über Masar-e-Sharif, Scheberghan, Maimana, Morghab und Quala-i-Naw nach Herat wären es nur 920 Kilometer gewesen, bei 14 Stunden ununterbrochener Fahrzeit. Und das war unrealistisch von vornherein. Die zweite Route durch die Berge führt von Bagram über Panjab und Chaghcharan nach Herat/Koshk. 1350 km weit ist die Strecke, durch wüstes Gebirge, auf Saumpfaden und über halsbrecherisch aussehende Brücken, die Felsenrinnen überqueren. Auf Maultieren hätten wir zu reiten, doch das haben wir uns mit Tawab nicht zugetraut.
Wir waren auf der weitläufigsten Wegestrecke unterwegs, haben unser Land nahezu ¾ umrundet, um dann bei Herat nach Westen Richtung Iran abzubiegen. War es die ungefährlichste Strecke? Bisher haben wir einen Überfall nicht erlebt.
Dafür aber die Verhaftung von Parwin und, was sicher einmalig ist, ihre Befreiung durch einen angedichteten Ehemann. Dass der Adib diesen Coup so selbstlos mitgemacht hat, betrachten wir im Nachhinein als einen Fingerzeig Allahs. Es hätte auch einen anderen Ausgang nehmen können.
Afghanistan ließen wir mit dem Grenzübertritt hinter uns. Wird es für immer sein? Eine Reise ohne Wiederkehr? Wir kämen gerne in ein Land zurück, das frei ist von Terror und willkürlichen Hinrichtungen.
Endlose und beschwerliche Strecken haben wir überwunden. Neuartige Lebenserfahrungen gesammelt. Der Überlebenswille setzt enorme Energien frei. Mit Pick-ups, Bus und Lastwagen sind wir vorangekommen, in den südlichen Gebieten Afghanistans getrieben von der Furcht vor Taliban. Wenn sogar kleine Kinder derartige Strapazen verkraften, ist das eindrucksvoll. Aber wir überquerten zunächst die erste Grenze. Andere werden folgen. Wenn uns das Glück zur Seite steht.
Ich, Najib, komme gelegentlich ins Zweifeln. Was ist ein Ungläubiger? Ein Christ, Hindu, Buddhist oder Jude wird das nicht sein. Denn die Menschen beten jeweils ihren Gott an, wenngleich sie ihn nicht Allah nennen. Doch ausgerechnet deshalb beabsichtigen die Talib diese Mitmenschen vom Erdboden zu vertilgen. Was für eine irrsinnige Idee! Der Koran hat so manche Gemeinsamkeit mit der Bibel.
Mein Volksstamm der Tadschiken lebt im Norden Afghanistans, in Teilen des Iran sowie in südlichen Gebieten Tadschikistans. Der Iran ist für uns ein Bruderland, was die Sprache betrifft. Im Gegensatz zu unserer Heimat dagegen wirtschaftlich hoch entwickelt. Es wäre naheliegend, dass wir im westlichen Nachbarland blieben. Weshalb nur streben alle weiter? Ist mir schleierhaft. Der Iran ist doch von Schiiten bewohnt.
Freundliche Grenzer haben uns den iranisch/afghanischen Schlagbaum passieren lassen. Nur unsere Pässe waren vorzuzeigen. Dass außerdem ein Visum erforderlich wäre, erfuhren wir erst später. Ein derartiges Dokument ist nicht in unserem Besitz. Wo hätten wir es auch bekommen vor unsrer Flucht? Werden wir das Papier an den anderen Grenzübergängen benötigen? Was ist das denn überhaupt? Und weshalb wurden wir ohne dem durchgelassen?
Als erste Stadt in einem fremden Land erreichen wir Taybad. Freundliche Iraner haben uns bis dorthin im Auto mitfahren lassen. Wir hatten kein Problem, uns auf Farsi zu unterhalten.
Weil es erst Mittag war, nutzten wir den restlichen Tag, uns in Richtung Mashad zu begeben. Immer einen Fuß vor den anderen! Die Anfangskilometer waren wir voller Elan. Mit prallgefüllten Rucksäcken waren wir drauf wie Touristen. Das änderte sich dann bald.
Oft sind wir von deutschen Soldaten gefragt worden, ob es wahrhaftig so viele Erholungsorte in unserem Land gibt. »Wieso?« fragte ich.
»Ja, die Städte Taybad, Dschalalabad, Chanabad, Faizabad oder Asadabad sind doch alles Kurorte?«
Da waren die Leute erst mal aufzuklären: »Die Endung - Bad im Namen sagt nur, dass es sich um eine Stadt handelt. Badeorte sind das nicht.«
Da gab es ein großes Gelächter. Aber so verwirrend und zweideutig ist Sprache. Das werden wir ebenso erfahren.
Von Taybad bis Mashad sind es 230 Kilometer. Nur gelegentlich nahm uns mal ein Auto mit. Meist haben wir zu laufen. Wir sind zwar längere Wegestrecken aus der Heimat gewohnt, wenn wir andere Dörfer besuchten, doch keine tagelangen Märsche auf Asphaltstraßen. Hier saß uns der Fluchtgedanke im Nacken. An den Füßen bildeten sich wässrige, schmerzhafte Blasen.
Verständlich, das Tawab zu jammern anfing. Selbst Parwin und ich schleppten uns bald nur so dahin. Wenn es überhaupt nicht mehr vorwärtsging, trug ich den Jungen auf der Schulter. Dann saß er auf dem Rucksack und betrachtete von oben die gebirgige Landschaft. Wieder quälen die Zweifel, ob unsere Flucht Sinn macht. Doch jetzt gibt Parwin die Durchhalteparolen. Meine Frau erweist sich als die reinste Überlebenskünstlerin. Sie ist es ja, die sich am meisten vor den Gotteskriegern zu fürchten hat.
Vier Tage sind wir auf einer kurvenreichen, bergigen Straße unterwegs und reichlich erschöpft. Doch der Ehrgeiz hat uns gepackt. So weit schon in die unbekannte Welt vorgedrungen, da gibt es kein Schlappmachen! Irgendwann wird die Quälerei ein Ende haben! Die Hoffnung stirbt immer zuletzt.
Nachts suchten wir Unterschlupf in Felsenhöhlen, denn die Gegend ist buckelig, und Karawansereien fanden sich keine. In den durchwanderten Dörfern versorgten wir uns mit Nahrungsmitteln und Wasser, und wenn wir unsere Geschichte erzählten, gab man uns sogar kostenlos. Denn im Koran steht geschrieben, dass dem Wandernden, dem es dürstet, Speise und Trank zu reichen sei. Weshalb halten sich Taliban nicht an die Gebote und zerbomben alles?
Die Zeit drängte uns vorwärts, nicht mehr die Taliban. Mashad ist das nächstliegende Ziel. Eine Pilgerstadt der Schiiten.
Die Abende in der Natur entschädigten uns mit den Strapazen tagsüber. Parwin buk auf einem Holzfeuer die üblichen Fladenbrote. Und wenn der Hunger gestillt war, betrachteten wir, zwar erschöpft, aber dankbar, aus unserer Naturbehausung die Sonnenuntergänge. Wir meinten, darin Zeichen zu erkennen, dass das Kismet uns gutgesonnen wäre. Wie man sich doch täuschen kann.
Und Tawab gibt uns Rätsel auf. Nach den anfänglichen Querelen und nachdem sich die wund gelaufenen Fußsohlen mit Hornhaut überzogen hatten, fand er sichtbar Gefallen daran, mit uns in unbekannte Gegenden zu kommen. Bisher war immer nur Tschordare mit den wenigen Sandwegen und den umliegenden Feldern seine Welt. »So groß ist die Welt, Papai?« fragte er ein ums andere Mal.
»Die ist viel größer, als du sehen kannst! Fast so groß wie der Himmel über uns.«
Besser ließ es sich von mir nicht beschreiben. Ich kenne ja selber so wenig von ihr. Nur, dass es bis Europa viele tausend Kilometer weit ist. Wir lebten die Illusion, das meiste davon auf Rädern zu bewältigen. Hätten wir die Kenntnis .....
Nach den anstrengenden Tagen fuhren wir ab Fariman mit einem Bus in die persische Pilgerstadt im Nord-Osten des Iran. Das war wie ein Geschenk des Himmels. Und die Omnibusse sind komfortabel und nicht heillos überfüllt. Was ist Iran doch für ein zauberhaftes Land.
Ja, auf den ersten Blick. Wir lernten es dann anders kennen, als die großen Städte erreicht waren. Bisher waren wir auf dem Land unterwegs.
Es lässt sich problemlos in Farsi mit den Iranern sprechen, wenn der Tonfall auch etwas ungewohnt ist. Man zeigt Mitgefühl mit uns, gleichfalls Hochachtung, dass wir mit dem Kleinen diese Flucht unternehmen. Oft haben wir unsere Geschichte zu erzählen, quasi als Entgelt für die gelegentliche Mitnahme in meist abenteuerlichen Fahrzeugen. Mal waren es von Eseln gezogene Karren, mal Rostlauben von Autos, einmal aber ein Mercedes. Den erkannten wir an seinem Stern auf der Kühlerhaube, und darauf zeigte sein Besitzer mit stolzgeschwellter Brust. Solche Autos fuhren die afghanischen Generäle und andere bedeutende Personen. Doch weil der einfache Afghane im Staub der Straße zu laufen hat, schürte das den Hass. Und das nutzen die Taliban.
Fast drei Wochen sind wir schon von Tschordare weg. Jetzt müssten wir uns endlich mal melden. Aber erst in Mashad wird es eine funktionierende Internetverbindung geben. Damit ist der Iran weit besser aufgestellt als Afghanistan. Ist ja schließlich eine technisch gereifte Nation. Doch weshalb sind die Schiiten hier effektiver als in unserer Heimat? Darüber grübelte ich. Aber das wirkliche Leben hatten wir bisher nicht kennengelernt.
Dem Terror in Afghanistan sind wir glücklich entronnen und hoffen auf eine Zukunft ohne Konflikte und Mord. Doch, um das Land unserer Träume zu erreichen, liegen weitere 5.600 km vor uns. Mit dem Auto würde das in 58 Stunden zu schaffen sein, habe ich gegoogelt…...ha ha.
Mashad, eine der Großstädte Irans, ist erreicht. Nie hatten wir im Sinn, jemals eine solche Strecke zurückzulegen. Es ist eine Pilgerstadt, denn da wird der achte Imam Reza verehrt, der in der Gouharshad-Moschee bestattet ist.
Das muslimische Gotteshaus ist ein bedeutendes Heiligtum und wird jährlich von 100.000 Pilgern besucht. Auch wir verehren diesen Imam, und so sind wir gleichsam Flüchtlinge und Hadji in persona. Anders als in Kandahar, wo wir nur der Form halber dem Schutzpatron der Sunniten huldigten, ist es hier ein Heiliger der eigenen Glaubensrichtung. Unser erster Weg führte uns zu dieser Moschee, um Danke zu sagen. Danke dafür, dass uns die Taliban auf der Flucht nicht entdeckten. Und um zu bitten, dass uns der weitere Weg geebnet würde.
In Mashad geben wir uns nach den Strapazen auf der endlos sich hinziehenden Straße einige Tage dem Nichtstun hin. Wir fanden Unterkunft in einer Bleibe des iranischen Halbmonds. Man kümmerte sich liebevoll besonders um Tawab, nicht nur, weil wir Glaubensbrüder sind. Endlich mal wieder mit einem Dach über dem Kopf schlafen. Wiederholt wurden wir gefragt, ob wir anständig versorgt sind. Für die Zeit des Aufenthaltes im Roten Halbmond hatten wir unsere Ausweise zu hinterlegen. Die iranische Polizei wäre da besonders streng. Selbst diese Hilfsorganisation ist vor Repressalien nicht geschützt, sagte man uns.